Herzlich Willkommen zum tierfreundlichsten TV-Format des Landes. Nach ihrem Leoparden-Outfit aus Folge Eins und dem Zebra-Look aus der Vorwoche zeigt sich Heidi Klum heute im Tiger-Mantel. Da die Model-Mama im Laufe einer GNTM-Staffel traditionell noch mindestens je einmal eine Paradiesvogel-Kombi, Kroko-Stiefel, ein Leo-Kostüm und einen absurden Onesie (wahlweise Panda oder Braunbär) tragen wird, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass wir zum Finale alle 13 Bände „Grzimeks Tierleben“ durchdekliniert haben werden.
Bis dahin hat jedoch erstmal Corona - wie den Rest der Welt - auch die 16. Staffel der Plusquamperfekt-Festspiele erbarmungslos im Griff. Folgerichtig bleibt das Flugmeilen-Konto während der Pandemie-Edition von GNTM leerer als die Erfolgs-Statistik von Andi Scheuer. Das bedeutet für die Mädchen vor allem: statt des gewohnten Fashion-Metropolen-Hoppings zwischen Los Angeles, Paris, Mailand, New York und London gibt es dieses Jahr lediglich Berlin und eine auf Wish bestellte Opéra Garnier - den Friedrichstadtpalast in Mitte.
Da gibt es dafür dann allerdings immerhin einen Ballett-Crash-Kurs von einer Art Désirée Nick mit schwarzer Perücke und dem Künstlernamen Alexandra sowie die Erkenntnis: Eine Ballett-Ausbildung, die im Hauptstudium nach jahrelangem Training und bestandener Aufnahmeprüfung so um die vier Jahre dauert, kann man nur bedingt auf vier Stunden komprimieren.
Unter Profi-Ballerinen heißt es, man benötige etwa vier Jahre hartes Training, um überhaupt sicher genug auf Spitzenschuhen tanzen zu können, aber bei GNTM geht so ziemlich alles etwas schneller. In nur wenigen Wochen beispielsweise schrauben einige Kandidatinnen ihre Followerzahl von knapp über der Bedeutungslosigkeit auf stattliche 400.000 hoch und dürfen zur Belohnung anschließend den Rest ihrer Karriere täglich in Insta-Storys so euphorisch Mascara-Rabattcodes anpreisen, als hätten sie gerade eine Pille gegen Gewichtszunahme erfunden. Oder wenigstens gegen Markus Söder.
Insofern kaum verwunderlich, dass die Mädchen sich auch in der Rekordzeit von nur einer Stunde für das Ballett-Tanzen in Spitzenschuhen qualifizieren. Nächste Woche gibt es dann übrigens vier Stunden Pilotentraining und anschließend fliegen die Kandidatinnen einen Tornado-Kampfjet im Dreifach-Looping durch das Brandenburger Tor.
Das muss schon drin sein, immerhin wollen alle Teilnehmerinnen ja hoch hinaus! Das als „Starfighter“-Shooting in die GNTM-Historie eingehende Schleudersitz-Special wird natürlich in Kooperation mit Germany‘s Next Topverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer präsentiert, der Heidi Klum der Bundesministerinnen. Kein Zufall, denn AKK und Klum haben viel gemeinsam: Sie lieben Karneval und lassen ihre Untergebenen gerne in Schlafsälen nächtigen.
Ballett-Mantra der Stunde: Eleganz, Körperspannung und Disziplin
Aber zurück zum Thema: Im Ballett-Workshop beschwört Désirée Alexandra Nick die Mädchen inständig, sich das Ballett-Mantra der Stunde einzuprägen: Eleganz, Körperspannung und Disziplin. Einige Mädchen gucken dabei, als sollten sie den Unterschied zwischen dem Biontech- und dem AstraZeneca-Impfstoff erläutern.
Da gucken die Mädchen natürlich sparsam aus ihrer knappen Wäsche. Oder halt wie Lothar Matthäus, wenn er den Satz „ich bin gekommen, um die Meisterschaft zu gewinnen“ unfallfrei ins Englische übersetzen soll. Vielleicht haben sie aber auch nur Angst, sie müssten später eventuell Schwanensee tanzen. Und wie das mit Schwänen im Fernsehen enden kann, wissen Reality-TV-Experten ja spätestens, seit Sebastian Preuss Bachelor war.
Als Lichtblick der Pirouetten-Akrobatik im Ballett-Camp taucht plötzlich wie aus dem Nichts Alysha auf. Ich könnte schwören, ich habe diese Kandidatin noch nie zuvor gesehen. Vielleicht wurde sie spontan eingeschmuggelt, damit wenigstens irgendjemand nicht so aussieht, als würde er sich schon bei den Dehnübungen vor der ersten Position die Beine verknoten. Oder sie wurde heimlich gegen Sara eingetauscht, die plötzlich wie von Geisterhand aus dem Ensemble verschwunden scheint.
Nach einigen Demi-Pliés gibt Désirée Alexandra Nick den Bolschoi-Rookies dann noch schnell den wichtigsten Geheimtipp für Ballett-Prinzessinnen mit auf den Weg: „Man muss elegante Füße und volle Hände haben“, bevor sie die angehenden Fuß- und Handmodels abschließend direkt zum Trainingsabend in ihr Loft entlässt. Zwanzig GNTM-Kandidatinnen, die nach nur einem Tag Unterricht quer durcheinander Pas de Deux üben, das sieht natürlich ein bisschen so aus, als hätte jemand bei den Bundesjugendspielen der Andrej-Mangold-Hauptschule Hannover heimlich die isotonischen Getränke durch Branntwein ersetzt.
Tanzen macht hungrig, Hunger macht aggressiv und diese Kombination sorgt schon wieder für Partystimmung bei den Quotenanalysten von ProSieben: Das Teilnehmerinnenfeld liefert schon in Woche drei zuverlässig den nächsten kapitalen Diffamierungs-Eklat. Nachdem letzte Woche Liliana auf ihren (Bein-)Durchbruch hoffte, entwickelt sich heute das große Avocadogate. Getreu dem bewährten Motto: Immer auf die, die gerade nicht im Raum sind, entschließen sich Chanel und Linda für eine gezielte Läster-Offensive und schießen sich auf ihre Mitstreiterin Elisa ein.
So ganz genau habe ich nicht mitbekommen, worum es genau geht, weil ich gerade „Kindergarten“ googeln musste, aber irgendwie hat wohl Elisa den ausschweifenden Verzehr von Cornys kritisiert, während sie sich gleichzeitig genüsslich ein Avocadotoast zubereitete. Verständlich, dass da der Zorn der Corny-Liebhaber-Fraktion enorm ist. In unnachahmlicher literarischer Glanzform gibt Linda echauffiert zu Protokoll: „Ich gucke in Elisas Gesicht und denke mir so: Halt die Fresse“.
Der erste shitstormfähige Hate-Charakter
In dieser lauschigen Dinner-Diskreditierungs-Atmosphäre möchte Chanel ihr den begehrten Preis für die Hinterfotzigkeit der Woche nun aber nicht kampflos überlassen und erhöht um: „Da denke ich nur, friss dein Avocado-Toast und halt dein Maul”. Mächtig Konkurrenz also plötzlich für Liliana auf der nach unten offenen Lijana-Gedächtnis-Skala der intrigantesten Gemeinheiten. Wer das Rennen da letztendlich machen wird scheint plötzlich völlig offen. Ach, und übrigens, nur zum Verständnis: Bei Corny handelt es sich um einen Müsliriegel, nicht um eine Kandidatin.
Dann ist endlich nächster Morgen und obwohl noch gar nicht Ostern ist, kehrt Jesus zurück. In Form von Fotograf Marcus Schaefer, der schon in der Saison 2017 für biblische Shooting-Momente gesorgt hatte. Er gibt sein Comeback beim Schwanensee auf der Spree. In hauchzarten und weitestgehend transparenten Ballett-Tutus treten die Mädchen in Shooting-Duellen gegeneinander an. Viel Zeit für Augen-MakeUp bleibt dabei während der Vorbereitung nicht, weswegen die MakeUp-Artists die Kandidatinnen behelfsweise offensichtlich mit Wasserbomben voll schwarzer Tinte bewerfen.
Nur wenige Stunden nach ihrem „Elisa soll ihr Maul halten“-Bonmot sitzt Linda neben jener Elisa und referiert ausgerechnet über Gruppenzusammenhalt. Ja, da muss sie selber lachen. Beeindruckend, wie ProSieben hier den ersten shitstormfähigen Hate-Charakter konstruiert. Linda beschwört Zusammenhalt. Das wirkt so grotesk, beinahe fürchtet man, gleich kommt Scheich Chalifa bin Zayid, Staatspräsident der Vereinigten Arabischen Emirate, und versichert seine Solidarität mit der LGBTQ-Bewegung.
In Outdoor-Shooting-Duellen auf einer eiskalten Spreebrücke geht es dann um mehr als nur ein gutes Foto, permanente Frostbeulen und zweifelhaftes MakeUp, denn die jeweiligen Duell-Siegerinnen ziehen direkt in die nächste Runde ein und müssen nicht mehr in den Entscheidungs-Walk. Wer diese Siegerinnen sind, darüber entscheidet am Ende wie immer Heidi Klum. Und das nach klaren Parametern: Ausdruck und Facettenreichtum. Um Ballett geht es nicht, denn: „Ich suche ja keine Ballett-Tänzerin“. Das stimmt. Topmodels allerdings auch nicht. Und Bonusfrage: Wenn keine Ballett-Tänzerin gesucht wird, was trainiert man dann vor dem Shooting am besten rund um die Uhr? Genau: Ballett.
Nachdem spätestens jetzt klar ist, dass am Ende doch wieder nur Kanonenfutter für Günther Klums Influencer-Vermarktungsbude rekrutiert wird und kein brauchbarer Nachwuchs für die Royal Ballett School, spendiert uns seine Tochter Heidi wenigstens noch ein paar ikonische Model-Weisheiten wie: „Eure Gesichter nicht vergessen“. Und das stimmt: Models, die ohne Gesicht zum Casting erscheinen, bekommen den Job statistisch betrachtet noch seltener als Michael Wendler einen Job bei RTL.
Am Ende des Tages gibt es zehn Duell-Siegerinnen, denn der stets im Hintergrund sichtbare Fernsehturm am Alexanderplatz läuft außerhalb der Wertung. Aus Haltungs-Gesichtspunkten hätte der als erster ein Foto verdient, aber Klum sucht augenscheinlich nicht nur keine Ballett-Tänzerin, sondern auch keine Fernsehtürme. Zurück im Model-Loft gibt es dann noch einen emotionalen Lagerfeuer-Moment für Feinschmecker der Trash-TV-Rührseligkeit, als Kandidatin Alex dem GNTM-Kader ihr zwei Jahre zurückliegendes Outing als Transfrau beichtet.
Eher Performance-Art-Installation als klassischer Catwalk
Wenn man sich anschaut, was draußen in unserer vermeintlich weltoffenen, aufgeklärten und liberalen Welt und insbesondere in den Social-Media-Kommentarspalten los ist, sobald irgendwo jemand auftaucht, der nicht reibungslos in das Normalitäts-Schema der 50er-Jahre passt, ist es schon etwas beschämend, dass uns ausgerechnet eine Gruppe zusammengewürfelter, sehr junger Frauen mit unterschiedlichsten Hintergründen vormachen muss, wie man auf so ein Outing reagiert. Nämlich so, als wäre es normal. Denn es ist ja auch normal.
Als wäre der Abend aber nicht schon außergewöhnlich genug, kommt dann auch noch Nikeata Thompson reingeschneit und bereitet die zehn Duell-Verliererinnen auf ihren morgigen Elimination-Walk vor. Der gleicht eher einer Performance-Art-Installation als einem klassischen Catwalk. Erst liegen die Mädchen hochkant im Bett und müssen das Erwachen aus einem schlimmen Albtraum suggerieren, dann rennen sie eine Weile auf einem Laufband, bis vor ihnen eine Nebelschwade explodiert und sie in durchsichtigem Negligé den Laufsteg abschreiten. Was einen eben im Model-Alltag so erwartet.
Wenn sich blutjunge Mädchen halbnackt in Betten wälzen, ist meistens Zoten-Queen Klum nicht weit. Und auch heute trägt sie geistesgegenwärtig ein Kleinod aus der sexuellen Paartherapie vor: „Steif im Bett ist nie gut“. Und da hat sie Recht, also jedenfalls wenn Tom Kaulitz nicht in der Nähe ist. Zum Glück ist das Nightmare-on-Catwalk Desaster bei nur zehn Teilnehmerinnen relativ schnell vorüber und Klum kann sich auf ihre drei Kernkompetenz konzentrieren: Fotos vergeben, Fotos nicht vergeben und wertvolle Tipps raushauen. So wie diesen Interpunktions-Hinweis an Liliana: „Mach das Fragezeichen weg, wenn du aus dem Haus gehst“. Justus Jonas gefällt das nicht, Liliana auch nicht, denn am Ende entscheidet sich zwischen ihr und Nana, wer schon in Woche drei das Abenteuer GNTM verlassen muss.
Und was soll ich sagen: Heidi hat keinen großen Bock darauf, mit gebrochenen Beinen aus dem Studio getragen zu werden und entscheidet sich daher für den Verbleib von Liliana. Nana muss gehen. Aus unerfindlichen Gründen verzichtet der Soundtrack-Beauftragte von ProSieben darauf, das tränenreiche Abschieds-Szenario backstage mit dem Nana Klassiker „I‘m Coming, I‘m Coming, I‘m Here Have No Fear. Nana Is Back, Nana Is Here” zu untermalen, und so folgt Nana der vor Wochenfrist eliminierten Maria ohne musikalische Hommage recht frühzeitig in die Post-GNTM-Ära.
Wen es nächste Woche trifft oder ob Heidi Klum die Mädchen womöglich mit dem Satz „Ich habe heute leider kein Foto für Dich“ verschont, da mittlerweile mit Sara und Ricarda bereits zwei Kandidatinnen außerhalb des Rauswurf-Zyklus freiwillig gegangen sind, das verrate ich hier in der kommenden Woche!
Marie von den Benken ist als @Regendelfin auf Twitter und Instagram unterwegs, Hamburgerin, Model und Autorin. Außerdem schreibt sie jede Woche auf ICONIST über die großen und kleinen Dramen bei „Germany’s Next Topmodel“.
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