Im April 2020 versuchte der äußerlich gebrechlich erscheinende Regisseur Jean-Luc Godard während eines auf Instagram präsentierten Interviews mal wieder, mit einer strammen These der Welt die Augen zu öffnen über große geschichtliche Zusammenhänge. »Beim Irakkrieg 2003 ging es in Wahrheit darum, dass die Amerikaner den Ort erobern wollten, an dem die Menschheit das Schreiben lernte«, habe der Filmemacher da allen Ernstes behauptet – so steht es in Bert Rebhandls wunderbar faktensatter neuer Godard-Biografie.
Über den Kinokünstler liest man da unter anderem, er habe zeit seines Lebens nicht nur große Kunst und Philosophie betreiben, sondern »immer auch eine Gegenaufklärung« betrieben. Klingt wie eine Umschreibung für: Godard hat sehr oft Unsinn verzapft.
Das Buch »Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär« beschreibt die Arbeit des in der Schweiz aufgewachsenen und auch heute wieder in der Schweiz lebenden, in Frankreich berühmt gewordenen Regisseurs. Viele Menschen verehren ihn als genialischen Grübler und originellen Bilderfinder. Vor ein paar Tagen ist Godard 90 Jahre alt geworden. Die besten seiner Filme möchte man sich sofort noch mal ansehen, wenn man Rebhandls souverän erzähltes und mit vornehmer Zurückhaltung analysierendes Buch über den Filmemacher liest.
Führung durch ein zerfranstes Werk
Ein paar große Augenblicke der Kinogeschichte werden hier jeweils mit ein paar knappen Sätzen in Erinnerung gerufen. Das Bettgespräch in einem Hotelzimmer zwischen Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in »Außer Atem« (1960) zum Beispiel. Das Wettrennen durch den Louvre zu dritt, mit Anna Karina, Sami Frey und Claude Brasseur in »Die Außenseiterbande« (1964). Die absurde Stau- und Autocrash-Szenerie auf einer französischen Landstraße in »Week End« (1967). Das von Maruschka Detmers und Jacques Bonnaffé gespielte, unter einer Dusche zusammengezwungene Paar in »Vorname Carmen« (1983).
Schon im Prolog schreibt Rebhandl allerdings, die Filmografie des Regisseurs Godard umfasse mittlerweile insgesamt »weit über hundert Titel«; die meisten dieser Filme sind leider schwer verständliches, apokryphes Zeug. Dass Rebhandls Buch es schafft, in diesem inzwischen sehr unübersichtlichen, zerfransten Werk ein wenig Klarheit zu schaffen über die Königswege, Verirrungen und kleinen Desaster des Meisters, ist schon mal eine tolle Leistung.
So tapfer cineastisch, kenntnisreich und einfühlsam sich Rebhandl aber an den Werken und theoretischen Überlegungen eines Mannes abarbeitet, den er selbst als »Weltgeist mit den Mitteln des Kinos« beschreibt, so bizarr und oft grässlich ist das Bild des Künstlers, das in seinem Buch entsteht.
Jean-Luc Godard, über den bereits vor diesem Buch mindestens drei Biografien erschienen sind, erscheint hier als hochtalentierter, aber sozial hochgradig dysfunktionaler Kauz. Als ein Mann, der mit Sonnenbrille und schönen Gefährtinnen in den Sechzigern noch als Popstar auftrat, aber seinen Ruhm gern dafür nutzte, sich vor allem in politischen Fragen als grauenhafter Besserwisser aufzuplustern. Als Triebmensch mit mindestens nervigen sexuellen Obsessionen, der sich ausdauernd für Pornografie begeistert, in seinen Filmen eine bemerkenswerte Vorliebe für A-tergo-Sexszenen zeigt und in einem Werk von 1975 (»Nummer zwei«, fabriziert gemeinsam mit seiner Gefährtin Anne Marie Miéville) einen Protagonisten behaupten lässt, es sei völlig unverständlich, dass Sex zwischen Erwachsenen und Kindern vom Gesetz verboten sei.
Rebhandl ordnet das Kinderschänder-Gerede aus »Nummer zwei« in den Kontext jener französischen Intellektuellenszene ein, die 1977 in einem berüchtigten Zeitungsaufruf die Legalisierung von Sex mit Minderjährigen forderte. Und er bringt die damalige Geistes- und Gemütsverfassung des Filmemachers Godard auf die schöne Formel: »Ein Film über einen Arsch und ein Film über Politik werden austauschbar.«
Truffaut schrieb, Godard führe sich »wie ein Arschloch« auf
Mit seinen Kritiker- und Filmemacherkollegen, die sich im Paris der Fünfziger »Jungtürken« nannten und dann die Nouvelle Vague gründeten, überwarf sich Godard 1973 endgültig. Damals schrieb er in einem Brief an seinen früheren Mitstreiter François Truffaut: »Wahrscheinlich wird dich niemand Lügner nennen, also tue ich es«. Natürlich ging es um angeblichen politischen und ästhetischen Verrat.
Auf einer banaleren Ebene hatte Godard sich zuvor jahrelang (genau: sechs Jahre lang), wie es im Antwortbrief von Truffaut erwähnt wird, bei den Kollegen wegen seiner Trennung von seiner Muse Anna Karina ausgeheult, sich oft, so Truffaut, »wie ein Arschloch aufgeführt« und praktisch alle damit zum Irrsinn getrieben, »dass du neidisch und eifersüchtig warst, sogar in deinen guten Zeiten«. Ist das nicht höchst interessant?
Fest steht: Godard spielt sich bis heute gern als Weltweiser in politischen Fragen auf, war zeitweise dogmatischer Maoist und lässt außerhalb des eigenen Werks nur wenig gelten. Wie oft er im Lauf seines Lebens pathetisch den Tod des Kinos beschworen hat, weiß Godard vermutlich selbst nicht mehr. In seiner achtteiligen Serie »Histoire(s) du cinéma«, zu Deutsch »Geschichte(n) des Kinos«, bastelte er in den Neunzigern aus seiner ewigen Totenklage einen im TV präsentierten Sargdeckel.
Der Biograf Rebhandl schildert nüchtern, stets bemüht um Einfühlung und Verständnis, die politischen Bocksprünge des Meisterregisseurs. Sein Versuch, zur Zeit des Vietnamkriegs in Hanoi filmen zu dürfen. Seine Reisen nach Mosambik, wo er in den Siebzigern helfen wollte, einen marxistischen Staatssender aufzubauen.
Am Umstrittensten bis heute sind Godards Angriffe auf Israel und sein Engagement für die Palästinenser, die ihn schon 1969 dazu brachten, die Gewalttaten der israelischen Besatzer im Westjordanland mit dem Morden der deutschen Nationalsozialisten an den Juden zu gleichzusetzen; eine Polemik, die er zusammen mit Anne-Marie Miéville in den Siebzigern in dem Machwerk »Ici et ailleurs«, (»Hier und anderswo«) in abstoßende Bilder übersetzt: »Man sieht eine digitale Rechenmaschine, die Ziffern mit historischer Signalwirkung zusammenzählt«, schreibt Rebhandl. »Von 1917 über 1936 und Hitler geht das zwanzigste Jahrhundert weiter bis zu Golda Meir. Vor diesem Hintergrund eines polemischen Algorithmus muss man wohl auch die Montage zwischen Auschwitz und Palästina begreifen.«
Der Gesamtkunstwerker Godard, hat sich, wie man aus diesem Buch erfährt, in einem Interview mit Michelangelo verglichen. Angeblich, weil er wie Michelangelo fast ausschließlich Auftragsarbeiten ausführt. Natürlich meinte Godard damit auch ganz unbescheiden seinen Rang in der Kulturgeschichte.
»Man wird Godards Werk am besten gerecht, wenn man es tatsächlich als eine Universalpoesie begreift, die Bilder an die Stelle der Sprache setzt«, schreibt Bert Rebhandl. Doch so respektvoll und diskursgestählt ihm der Autor dieser Biografie zur Seite steht – für mich ist das Porträt, das in diesem Buch von dem Künstler Jean-Luc Godard gezeichnet wird, ein Bild zum Fürchten. Vielleicht sollte man sagen: höheres Horrorkino.
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