Das Grandiose, aber auch Verwirrende an diesem Film ist, dass fast jedes seiner Bilder so aussieht wie ein cooles, geschmackvolles Jazzplattencover. Eine junge Frau und ein junger Mann lungern vor einem Schaufenster herum. Sie rauchen Zigaretten auf einer Hinterhoftreppe. Sie tanzen in dem Klub, in dem der Mann zuvor auf der Bühne Saxofon gespielt hat. Der Regisseur Eugene Ashe taucht das alles in satte, hitzige Fünfzigerjahrefarben und leuchtet die Gesichter aus, dass die Wangen glühen und die Zähne blitzen – während die Augen seiner Hauptfiguren manchmal leuchten wie Christbaumkugeln.
Der US-Film »Sylvies Liebe«, der nun auf Amazon präsentiert wird, ist streng genommen kein Weihnachtsfilm, weil er mit geschmückten Tannenbäumen nicht viel zu schaffen hat und nur einmal eine üppige Neujahrsfeier zeigt. Und doch ergänzt er sich mit dem Blues-Drama »Ma Rainey's Black Bottom«, das gerade auf Netflix angelaufen ist, zu einem Festtagsprogramm, in dem voller Ausstattungspracht von Heldenfiguren afroamerikanischer Kultur erzählt wird. Während in »Ma Rainey's Black Bottom« Viola Davis eine Sängerin in den USA der Zwanzigerjahre spielt, die wirklich gelebt hat und heute als Pionierin gilt, schildert »Sylvies Liebe« die fiktive Geschichte eines Jazzsaxofonisten in den Fünfzigern und Sechzigern. Der Schauspieler Nnamdi Asomugha ist hier ein Musiker namens Robert Halloway. Er ist eine Art jüngerer Doppelgänger von Charlie Parker und Sonny Rollins, verehrt Thelonious Monk und tritt mit seiner Band im seinerzeit berühmten New Yorker Klub Blue Morocco auf.
Liebe auf den ersten Blick im Plattenladen
Es ist hinreißend, wie elegant der Regisseur Ashe den Sound und den Look eines goldenen Jazz-Zeitalters beschwört, ohne die Zuschauerinnen und Zuschauer seines Films mit langen Konzertszenen oder nerdigen Musikgeschichtsfakten zu langweilen. Obwohl die Story mit vielen historisch verbürgten Details unterfüttert ist, will »Sylvies Liebe« in erster Linie kein Künstlerdrama sein, sondern ein Melodram. Die Liebesgeschichte, die hier verhandelt wird, beginnt 1957: in einer Zeit also, in der das Genre des Melodrams – in dem stets eine widrige Außenwelt das Glück des Paars im Zentrum bedroht – sehr populär war. Allerdings hätten damals kein Fernsehsender und kein Filmstudio einen Film wie diesen finanziert. »Sylvies Liebe«, angesiedelt im New Yorker Stadtteil Harlem (und in einem Klub in der Bronx), zeigt nahezu ausschließlich afroamerikanische Darstellerinnen und Darsteller.
Die junge Titelheldin, gespielt von Tessa Thompson (die man aus »Westworld« kennen kann), hilft im Plattenladen ihres Vaters aus und trifft dort den aus Detroit angereisten Saxofonisten Robert (Asomugha). Sie erzählt dem sofort zappelig von ihr begeisterten Fremden, dass sie bereits mit einem in Korea kämpfenden Soldaten verlobt ist – und von ihrem Ehrgeiz, im Fernsehgeschäft zu arbeiten. »Können Sie sich das vorstellen? Eine Farbige, die Fernsehshows produziert?«, fragt Sylvies Vater kopfschüttelnd in der Diktion der Fünfziger. Da hat der Plattenladenbetreiber den Habenichts Robert, der seine nächtlichen Konzertauftritte für einen Hungerlohn bestreitet, bereits als Verkäufer angestellt.
Natürlich schafft es die Heldin später tatsächlich, das Fernsehhandwerk zu lernen. Sie setzt sich in einer Kulturgattung durch, die das Jahrzehnt noch entschiedener dominiert hat als die Jazzmusik. Den Jazzern wollten die jungen Menschen irgendwann nicht mehr zuhören, weil sie sich mehr für Rock und Pop interessierten. Genau das muss Robert erfahren, nachdem Sylvie und er sich für einen kurzen Sommer der Liebe aufeinandergestürzt haben und dann auf Jahre getrennt werden. Er reist für ein Engagement nach Paris. Sie entschließt sich, ihren aus Korea heimgekehrten, aus noblen Verhältnissen stammenden Verlobten zu heiraten.
Schlaglichter auf den Alltagsrassismus der Fünfzigerjahre
Die Bedeutung der Standesunterschiede innerhalb der afroamerikanischen Community, der Kampf fortschrittlicher Amerikaner gegen Rassismus und für Bürgerrechte, die allmähliche Emanzipation der Frauen – von all dem erzählt dieser Film lässig nebenbei. Einmal bekommt Sylvie von einer weißen Besucherin gesagt, was der schönste Vorzug an ihrem geschäftlich äußerst erfolgreichen Ehemann sei: Es falle gar nicht auf, dass er ein Schwarzer sei.
Den Zwängen der Gesellschaft und der Moral entledigt sich in diesem Film die Frau viel entschiedener als der Mann. Sie ist die treibende, weil selbstbewusstere Kraft der Lovestory. Insofern ist der Filmtitel richtig gewählt. Zugleich entspricht es den Regeln des Genres. »Der Held des Melodrams versteht seine Konflikte nicht, weil er an seinen Gefühlen zu ersticken droht«, hat der Kritiker Georg Seeßlen einmal die geschlechtsspezifischen Eigenheiten beschrieben. Asomugha, in den USA als Ex-Footballer berühmt, verkörpert als egomanischer Künstler Robert einen Mann, der stets von anderen angefeuert und geleitet werden muss – und der aus lauter Stolz nur selten den Mund aufbekommt.
Einmal lässt der Regisseur Ashe, der 1965 geboren wurde, einen Mitspieler erklären, warum der Jazz die Gunst des Publikums verloren hat. »Jazz ist eiskalt«, wird da behauptet. Man muss dieses Urteil nicht unbedingt teilen. Und kann einfach anerkennen, dass Eugene Ashe mit dem Film »Sylvies Liebe« auf ziemlich virtuose Art ein Glutfeuer aus sengenden Farben, New Yorker Sommer und Liebesnot anfacht.
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